Auswendiglernen






Im Studium (Gemälde von Nikolaus Gysis, Öl auf Holz, 1883)


Auswendiglernen (Memorieren) ist eine Form des Lernens, bei dem der Lernende sich Text, Zahlen oder andere Informationen so ins Gedächtnis einprägt, dass er sie später der Lernvorlage getreu wiedergeben kann. Auch Handlungsfolgen wie Musikstücke, Tänze, Schachpartien, Kochrezepte und Ähnliches können auswendig gelernt werden.


Auswendiglernen geschieht stets absichtsvoll (explizit). Ein Lernen, das beiläufig und ohne bewusstes Memorieren oder Üben vollzogen wird, bezeichnet man als implizites oder inzidentelles Lernen.


Die seit der Reformpädagogik populäre Unterscheidung von Auswendiglernen und Verständnislernen ist dagegen problematisch, weil Auswendiglernen auch geistige Auseinandersetzung mit dem Lernstoff einschließt.[1]


In vielen Kulturen bildet das Auswendiglernen bis heute eine Hauptform des schulischen Lernens, in der westlichen Welt u. a. für das Einmaleins und die Rechtschreibung.




Inhaltsverzeichnis






  • 1 Religion


    • 1.1 Judentum


    • 1.2 Christentum


    • 1.3 Islam


    • 1.4 Buddhismus


    • 1.5 Hinduismus




  • 2 Kulturelle Bedeutung


    • 2.1 Auswendigspielen in der Musik


    • 2.2 Auswendiglernen als Geheimhaltung




  • 3 Pädagogik


    • 3.1 Nutzen


    • 3.2 Auswendiglernen versus Verständnislernen




  • 4 Psychologie und Psychiatrie


  • 5 Literatur


  • 6 Weblink


  • 7 Einzelnachweise





Religion |



Judentum |


Im traditionellen und bis heute im orthodoxen Judentum ist das Auswendiglernen der Heiligen Schrift (Tanach, Talmud) ein wichtiger Bestandteil des religiösen Studiums, wobei allerdings nur wenige, außergewöhnliche Gelehrte ganze Bücher auswendig kannten; meist werden nur einzelne Abschnitte oder Textstellen auswendig gelernt. Diese Praxis entstand in einer Zeit, als schriftliche Fixierungen z. B. des Talmud noch gar nicht vorlagen und die Textkenntnis von den Vätern zu den Söhnen tradiert wurde.[2]



Christentum |


Eine bedeutende Tradition des Auswendiglernens gibt es auch im Christentum. Ob bereits Jesus selbst seine Anhänger zum Auswendiglernen wichtiger Aussprüche veranlasste, ist nicht sicher.[3] Die Kirchenväter empfahlen, Teile der Bibel – insbesondere das Neue Testament und die Psalmen – auswendig zu lernen.[4] In der Neuzeit wurde auch das Auswendiglernen des Katechismus üblich. So empfahl Martin Luther das Auswendiglernen seines Kleinen Katechismus.[5]


Bis in die Gegenwart hat sich die Praxis, Bibeltexte auswendig zu lernen, u. a. im englischsprachigen Raum erhalten.[6] Dort gibt es heute sogar digitale Lernsysteme, die das Auswendiglernen von Bibeltexten unterstützen.[7]



Islam |




Jungen in Mauretanien beim Auswendiglernen von Koransuren


Auch der Islam besitzt eine große Tradition des Auswendiglernens. Ein Hafiz, ein Gläubiger, der den gesamten Koran auswendig gelernt hat, wird unter Muslimen hoch geachtet. Das Auswendiglernen des Korans (ḥifẓ) ist ein wesentlicher Bestandteil des Lehrplans der Koranschulen; die Schüler beginnen damit etwa im fünften Lebensjahr.[8]



Buddhismus |


Unter den nicht monotheistischen Weltreligionen, in denen das Memorieren traditionell stark verbreitet war, ist der Buddhismus die bedeutendste. Aus der buddhistischen Literatur wurden besonders die überlieferten Lehrreden Buddhas auswendig gelernt.



Hinduismus |


Die Veden wurden ursprünglich nur mündlich weitergegeben, bevor sie ab dem 5. Jahrhundert schriftlich fixiert wurden.[9] Konnte ein Brahmane alle vier Veden aufsagen, so wurde er Chaturvedi genannt.[10] Die Tradition der vedischen Rezitation wird fortgeführt.[11]



Kulturelle Bedeutung |





In diesem Artikel oder Abschnitt fehlen noch folgende wichtige Informationen:
Leider nichts über die Arbeit von Schauspielern, die ja ebenfalls große Textmengen auswendig lernen müssen.
Hilf der Wikipedia, indem du sie recherchierst und einfügst.


Auswendigspielen in der Musik |




Der Pianist und Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy war einer der ersten Solisten, die das Auswendigspielen in Deutschland in Mode brachten.


Das Auswendigspielen (als Gegenbegriff zum Blattspiel) von Kompositionen basiert auf der Erinnerung an vorausgegangenes Blattspiel und/oder an Gehörtes.[12] In der abendländischen Kunstmusik ist das auswendige Musizieren stark verbreitet, und zwar besonders bei Gesangs- und Instrumentalsolisten.[13] Berühmte Solisten wie Niccolò Paganini, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt und Clara Wieck erregten großes Aufsehen, als sie diese Praxis seit den 1830er Jahren in Europa einführten. Das auswendige Spiel besaß nicht nur einen publikumswirksamen Schein von Improvisation, sondern gab dem Solisten auch zusätzliche Freiheit bei der Interpretation.[14]


Im Gegensatz zum Auswendiglernen durch Blattspiel basiert die Suzuki-Methode auf dem Prinzip, dass Kinder das Spielen eines Instruments durch Hören und Nachspielen erlernen sollen. Letztlich handelt es sich dabei aber auch um eine Form des Auswendiglernens mit Hilfe des Gehörs.


Die Fähigkeit, nur einmal gehörte Stücke so detailliert zu erfassen, dass sie später sogar niedergeschrieben werden können, findet sich nur bei wenigen außergewöhnlich begabten Musikern; so soll der 14-jährige Mozart ein komplexes mehrstimmiges Miserere von Gregorio Allegri aufgeschrieben haben, nachdem er es nur ein einziges Mal gehört hatte.[15]



Auswendiglernen als Geheimhaltung |


Seit der Ausbreitung der Schrift wurde das Auswendiglernen zu allen Zeiten verwendet, um Texte und andere Informationen so aufzubewahren, dass sie Unbefugten nicht in die Hände fallen können.


So lernte die litauische Holocaust-Überlebende Mascha Rolnikaitė im Ghetto Vilnius Teile ihres Tagebuchs auswendig, um zu verhindern, dass damit belastendes Beweismaterial gegen sie und ihre Familie existierte.


Viele Texte des unter dem Stalinismus politisch missliebigen russischen Dichters Ossip Mandelstam sind nur deshalb erhalten geblieben, weil seine Frau und seine Freunde sie auswendig gelernt haben.


Während der chinesischen Kulturrevolution, in deren Verlauf ein Großteil der tibetischen Literatur zerstört wurde, ermöglichte das traditionelle Auswendiglernen dieser Texte in vielen Fällen eine Wiederauflage der Bücher im Ausland.


Auch Ray Bradbury verwendete das Motiv in seinem 1953 erschienenen Roman Fahrenheit 451.



Pädagogik |



Nutzen |


Der britische Experimentalpsychologe William H. Winch wies in einer Versuchsreihe bereits 1908 nach, dass das Auswendiglernen sinnvoller oder sinnloser Inhalte einen messbaren (Transfer-) Effekt auf die Fähigkeit von Schülern hat, sich auch solche Dinge zu merken, die sie inhaltlich verstanden haben.[16]


Wie die amerikanischen Psychologen Jeffrey Karpicke und Jannell Blunt in Experimenten nachgewiesen haben, lernen und begreifen Collegestudenten naturwissenschaftlichen Lernstoff besser, wenn sie den Text wiederholt durcharbeiten und auswendig lernen, als wenn sie versuchen, sich den Inhalt mit Hilfe von Concept-Maps zu veranschaulichen und anzueignen.[1][17] Lediglich wenn ein vollkommen neues Wissensgebiet betreten wird, erweisen Lernmittel wie das Concept Mapping sich gegenüber dem Auswendiglernen als effizienter.[17]



Auswendiglernen versus Verständnislernen |


Wilhelm von Humboldt besaß für das Auswendiglernen zwar große persönliche Wertschätzung:





„Aber auch das eigene Auswendiglernen und Auswendigwissen von Gedichten, oder von Stellen aus Gedichten, verschönert das einsame Leben, und erhebt oft in bedeutenden Momenten. Ich trage mich von Jugend an mit Stellen aus dem Homer, aus Göthe und Schiller, die mir in jedem wichtigen Augenblicke wiederkehren, und mich auch in den letzten des Lebens nicht verlassen werden. Denn man kann nichts Besseres thun, als mit einem großen Gedanken hinüber gehen.“




Wilhelm von Humboldt: Brief an Charlotte Diede, 7. April 1833[18]


Als er 1809 begann, das preußische Schulwesen zu reformieren, setzte er sich jedoch dafür ein, dass die Schüler nicht auswendig lernen, sondern verstehen und begreifen sollten, womit sie sich beschäftigen.[19]


Unter dem Einfluss der Reformpädagogik wurde die Deutung des Auswendiglernens als Gegenpol zu einem Verständnislernen weiter verfestigt. Bereits Rousseau war ein entschiedener Gegner des Auswendiglernens.[20] Auch Basedow und Pestalozzi berichteten, dass an ihren Schulen fast nicht mehr auswendig gelernt werde.[21]



Psychologie und Psychiatrie |


Während Fertigkeiten und automatisierte Handlungsabläufe ins prozedurale Gedächtnis „gespeichert“ werden, geht Auswendiggelerntes ins deklarative Gedächtnis ein, das neurologisch dem Neocortex zugeordnet wird.


Das Auswendiglernen kann man sich erleichtern durch die Anwendung von Mnemotechniken wie z. B. „Eselsbrücken“. Viele dieser Techniken, etwa die Schlüsselwortmethode und die Loci-Methode, basieren auf der Visualisierung der ansonsten schwer merkbaren Daten. Gedächtnissportler, die in Wettkämpfen wie der Gedächtnisweltmeisterschaft antreten, verwenden anspruchsvolle Mnemotechniken wie das Major-System, Dominic-System oder Ben-System. Zu den Anwendungsfeldern für hoch leistungsfähige Mnemotechniken zählt auch der Pi-Sport, das Auswendiglernen möglichst vieler Nachkommastellen der Zahl Pi.


Über ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen verfügen auch manche Savants und manche Menschen im Autismusspektrum; welche Mnemotechniken diese verwenden, ist oft unklar.



Literatur |



  • Klaus Berg: Gedichte im Gedächtnis? Vom Verlust der Gedächtniskultur in und außerhalb der Schule. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3192-X.

  • Wendelin Bitzan: Auswendig lernen und spielen: Über das Memorieren in der Musik. Peter Lang, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-631-60244-7 (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)

  • Arndt Elmar Schnepper: Goldene Buchstaben ins Herz schreiben. Die Rolle des Memorierens in religiösen Bildungsprozessen. V&R unipress, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8471-0028-7.



Weblink |



 Commons: Auswendiglernen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien


Einzelnachweise |




  1. ab Jeffrey D. Karpicke, Jannell R. Blunt: Retrieval Practice Produces More Learning than Elaborative Studying with Concept Mapping. In: Science. 20. Januar 2011. (Abstract)


  2. Yaacov Zinvirt: Tor zum Talmud. Lit Verlag, Berlin 2009, S. 53. (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)


  3. Craig Blomberg: Die historische Zuverlässigkeit der Evangelien. VTR, Nürnberg 1998, S. 44–47.


  4. Thomas Dienberg: Einübung in geistliche Vollzüge – Formen geistlichen Lebens. In: Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität (Hrsg.): „Lasst euch vom Geist erfüllen!“ (Eph 5,18) – Beiträge zur Theologie der Spiritualität. Lit, Münster 2001, ISBN 3-8258-5195-8, S. 190, S. 187–241. (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA); Moritz Grünwald: Über den Einfluss der Psalmen auf die Entstehung der katholischen Liturgie mit steter Rücksichtnahme auf die talmudisch-midraschische Literatur. J. Kauffmann, Frankfurt am Main 1890, S. 150. (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)


  5. [www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=6671 Vorrede zum Kleinen Katechismus] (PDF; 24 kB)


  6. Z. B. Joshua Choonmin Kang: Scripture by Heart: Devotional Practices for Memorizing God’s Word. IVP Books, 2010, ISBN 978-0-8308-3536-2.


  7. www.biblebyheart.net; The Scripture Memory Connection; Memorize His Word


  8. Kindererziehung im Islam (Memento des Originals vom 31. März 2012 im Internet Archive) i Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.orientdienst.de; Madrasa


  9. Johann Figl (Hrsg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen. 2. Auflage. Tyrolia, Innsbruck 2017, ISBN 978-3-7022-3614-4, S. 328. 


  10. S. L. Verma: Sanskrit Words in English. A Study. Little India Foundation, Joliet 2004, S. 6 (englisch). 


  11. Tradition of Vedic chanting. In: ich.unesco.org. Abgerufen am 16. September 2017 (englisch). 


  12. Bitzan: Auswendig lernen und spielen. 2010, S. 63.


  13. Bitzan: Auswendig lernen und spielen. 2010, S. 15.


  14. Janina Klassen: Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit. S. 120. (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)


  15. Bitzan: Auswendig lernen und spielen. 2010, S. 60; Hermann Abert: W. A. Mozart. Yale University Press, 2007, ISBN 978-0-300-07223-5, S. 135. (deutsche Originalausgabe 1956)


  16. W. H. Winch: The Transfer of Improvement in Memory in School-Children. In: British Journal of Psychology. Band 2, Heft 3, Januar 1908, S. 284–293.


  17. ab Lernforschung: Ein Loblied auf das gute alte Auswendiglernen. In: Welt online. 22. Januar 2011.


  18. Briefe Wilhelm von Humboldt’s. Zweiter Teil: Wilhelm von Humboldt an eine Freundin. Brockhaus, Leipzig 1847, S. 207. (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)


  19. Wilhelm von Humboldt: Litauischer Schulplan. 1809; zitiert nach Gila Brandt-Hermann: Typische Biographien untypischer Informatiker: Bildungsprozesse in Berufsbiographien von Informatikern. Waxmann, Münster 2008, ISBN 978-3-8309-1885-1, S. 47f. (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)


  20. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung. 4. Auflage. Paderborn 1978, S. 208.


  21. Friedrich Regener: Allgemeine Unterrichtslehre: Im Grundrisse dargestellt. Theodor Hoffmann, Gera 1894, S. 137. (vollständige Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)








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