Bürgertum
Unter Bürgertum versteht man eine historisch unterscheidbare Vergesellschaftungsform von Mittelschichten, sofern diese aufgrund besonderer, mehr oder minder gemeinsamer Interessen ähnliche handlungsleitende Wertorientierungen und soziale Ordnungsvorstellungen ausbilden und damit auch die politische Stabilität eines Landes beeinflussen.
Inhaltsverzeichnis
1 Begriff
2 Zur Soziologie des Bürgertums
3 Entstehung und Wandel des Bürgertums
4 Bürgerlichkeit als soziale und kulturelle Erscheinung
5 Siehe auch
6 Literatur
7 Weblinks
Begriff |
Im Rahmen der Politischen Ökonomie des Marxismus ist für die Klasse, die in der Gesellschaftsformation des Kapitalismus Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Produktionsmittel ausübt, die Bezeichnung Bourgeoisie üblich.
Als Wort geht Bürgertum (Bürger) als der Begriff für eine Bevölkerungsgruppe aus von dem mittellateinischen burgus, einer von Stadtmauern geschützten (geborgenen) und mit besonderen Privilegien, u. a. Marktrecht versehenen städtischen Ansiedlung, in der Kaufleute und Handwerker wohnten. Diese soziale Gruppierung ist indes im Lauf der Geschichte einem starken sozialgeschichtlichen Wandel unterlegen gewesen und hat dabei deutlich unterschiedene Unterformen ausgeprägt. So ist der Begriff des Bürgertums in den verschiedenen Gesellschaften wegen deren unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklungen nie völlig bedeutungsgleich.
Zur Soziologie des Bürgertums |
In der Soziologie wird das Bürgertum gegenüber dem Adel und Klerus sowie gegenüber Bauern, Handwerkern und Arbeitern als gesellschaftliche Schicht abgegrenzt. Es umfasst weitgehend in sich heterogene Sozialgruppen, die sich, sei es durch ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit mit überdurchschnittlichem Besitz, sei es durch formale Berufsvorbereitung (Bildung) auszeichnen und dadurch als Sozialgruppe bestimmte Vorrechte bezüglich Selbstverwaltung sowie Chancen zur Kontrolle sozialer Machtmittel zu erlangen vermögen.
„Bürgertum“ ist die zusammenfassende Bezeichnung für eine vielschichtig strukturierte, im Einzelnen nur schwer abgrenzbare Gesellschaftsschicht zwischen Oberschicht sowie Bauern und Arbeiterschaft. Sie setzt sich im Wesentlichen aus den Teilschichten des Großbürgertums und des Kleinbürgertums zusammen. Seit der industriellen Revolution wird sie meist dem Mittelstand zugeordnet.
Da also das Bürgertum meist aus weitgehend heterogenen Schichten besteht, ist der Prozess der Vergesellschaftung für das Bürgertum noch etwas problematischer als bei homogeneren sozialen Kategorien (zur Frage der Entwicklung eines Klassenbewusstseins bzw. der „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ vgl. Das Elend der Philosophie!). Strikt genommen ist die Tatsache, dass in einer bestimmten Gesellschaft eine Mittelschicht existiert, noch nicht ausreichend, um auf die soziale und kulturelle Existenz eines Bürgertums schließen zu können. Voraussetzung ist beim Bürgertum eine hinreichend ausdifferenzierte Sozialstruktur der Gesellschaft; außerdem müssen sich dort auf seine Interessenlage abgestimmte Ordnungsvorstellungen durchgesetzt haben (z. B.: Wirtschaftsliberalismus für das Groß-/Wirtschaftsbürgertum oder Aufklärung, Bildung und Freiheit der persönlichen Lebensführung, der Kunst und der Wissenschaft beim Bildungsbürgertum).
Entstehung und Wandel des Bürgertums |
In der Zeit des abendländischen Feudalismus erkämpfte sich das Bürgertum in Abgrenzung zu Bauern und Adel seine bürgerlichen Freiheiten zunächst in den reichsunmittelbaren Städten, gestützt auf kaufmännische Gilden und handwerklich-städtische Zünfte. Die im Zeitalter der Aufklärung formulierten und u. a. in der Französischen Revolution von den Bürgern erkämpften Bürgerrechte gelten heute als Menschenrechte.
Eine erste moderne Definition zu den rechtlichen Bestimmungen des Bürgerstandes stammt aus dem Jahre 1794 und findet sich im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) Zweyter Theil. Achter Titel. Erster Abschnitt. Vom Bürgerstande überhaupt:
- § 1. Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauernstande gerechnet werden können, und auch nachher keinem dieser Stände einverleibt sind.
- § 2. Ein Bürger im eigentlichen Verstande wird derjenige genannt, welcher in einer Stadt seinen Wohnsitz aufgeschlagen, und daselbst das Bürgerrecht gewonnen hat.
- § 3. Personen des Bürgerstandes in und außer den Städten, welche durch ihre Ämter, Würden, oder besondere Privilegien, von der Gerichtsbarkeit ihres Wohnortes befreyt sind, werden Eximierte genannt. […]
- § 5. Einwohner der Städte, welche weder eigentliche Bürger, noch Eximierte sind, heißen Schutzverwandte.
- § 6. Bürger und Schutzverwandte der Stadt werden nach den Statuten ihres Wohnorts, Eximierte hingegen nach den Provinzialgesetzen, und in deren Ermangelung, nach dem allgemeinen Gesetzbuche beurtheilt.
Bürgerrecht war also ein ständisches Recht. Es wurde durch Geburt erworben oder an solche Bewerber verliehen, die es beantragten und wichtige Bedingungen erfüllen mussten. Waren sie leistungsfähig und verfügten sie über Vermögen, waren sie willkommen. Das Allgemeine Landrecht verweist mit dieser Definition bereits auf drei Grundarten des Bürgerbegriffs: Stadtbürger (Handwerksmeister, wohlhabende Kaufleute, Ladenbesitzer, Gastwirte – insgesamt auch als Kleinbürger bezeichnet), Bildungsbürger im Staatsdienst (Eximierte) und Wirtschaftsbürger oder Bourgeois (ebenfalls Eximierte).
Im Laufe des 19. Jahrhunderts erweiterte sich dann der „Bürger“-Begriff, immer stärker wurde auch nach der Stellung im Beruf gefragt. Durch den Prozess der Verbürgerlichung können immer wieder neue Schichten in das Bürgertum hineingezogen werden (bspw. höhere Angestellte). Ausschlag hierfür ist das Ausmaß, inwieweit diese Schichten Selbstständigkeit und Zugang zu gesellschaftlichen Machtmitteln gewinnen (Autonomie und Autokephalie laut Max Weber).
Hingegen kann im Prozess einer Entbürgerlichung die soziale Basis für das Bürgertum schrumpfen, etwa indem bestimmte Kreise von Selbstständigen und fachlich Geschulten soziale Vorrechte abtreten müssen und/oder dieselben in der Gesellschaft allgemein verbreitet werden.
Bürgerlichkeit als soziale und kulturelle Erscheinung |
Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft wurde in der Epoche der Aufklärung entwickelt, fand aber bereits erste günstige Entwicklungsbedingungen in der „okzidentalen Stadt“ (laut Max Weber). Sie wurde zunächst als Stand (in der Französischen Revolution von 1789 als der gesamtgesellschaftlich ausschlaggebende „Dritte Stand“), dann im Marxismus als Klasse („Bourgeoisie“), zuletzt als stilbestimmendes Milieu aufgefasst, das in der Gegenwart zumindest inselhaft fortlebt und wirkt.
Eine weltgeschichtlich einzigartige Rolle spielte das Bürgertum bei der Transformation des Feudalismus und des Absolutismus in Wirtschaft und Gesellschaft durch seine Ideen von Demokratie (Volkssouveränität), Menschenrechten, Rechtsstaat und Liberalismus. Im Bereich der Dichtung und des Theaters emanzipierte es sich, indem es das bürgerliche Trauerspiel als Genre durchsetzte. In seiner 1962 erschienenen Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit beschreibt der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas das Bürgertum als eine gesellschaftliche Formation, die eine neue Form der Öffentlichkeit, ein neues Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und so schließlich die Entstehung der modernen Massengesellschaft herbeiführte.
Das Bürgertum prägte in der Zeit des Frühkapitalismus die „bürgerliche Weltanschauung“ aus, die eng mit den „bürgerlichen Tugenden“ Leistung, Fleiß und Sparsamkeit verbunden ist. Dabei formten die bürgerlichen Intellektuellen sich zu einem entweder staatlich alimentierten oder freiberuflichen Bildungsbürgertum, das teilweise auch Kritik an den vorherrschenden bürgerlichen Vorstellungen und Ideen zu formulieren vermochte.
Während die kommunistische Kritik einerseits die Bourgeoisie als Klassenfeind der Arbeiter definierte und dabei „Kleinbürger“ als zwischen den Klassenfronten politisch hin und her schwankend gesehen wurden, wurde der Begriff des Bürgers noch in anderen Zusammenhängen negativ besetzt verwendet, wie die Ausdrücke „Verbürgerlichung“ oder „verbürgerlichtes Christentum“ deutlich machen. Gleiches gilt für den von der Jugendbewegung aus dem 17. Jahrhundert übernommenen Begriff des „Spießbürgers“, ein aus dem Jargon des Ritterheeres stammendes Schimpfwort.
In den Niedergang des (z. B. „viktorianischen“ oder „wilhelminischen“) Bürgertums im späten 19. Jahrhundert gehört bereits das sich – teils vom Adel her – verbreitende Ideal, dass die Frau nur noch Repräsentationspflichten besitze und den Haushalt allenfalls noch beaufsichtige. Für die Hausarbeit gab es Personal. So hatte die bürgerliche Frau Zeit, dem Geld verdienenden Manne die bürgerlichen Bildungsanstrengungen abzunehmen, die Geselligkeit in den jeweiligen Verkehrskreisen zu organisieren, ggf. auch wohltätig zu sein.
Mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel wird schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Ansicht vertreten, dass das Bürgertum als beispielgebender Lebensstil insgesamt zu Ende gegangen sei. Hervorgegangen sei eine nachbürgerliche Gesellschaft von Angestellten, Beamten und anderen Gruppierungen, die im Wesentlichen in einem neuen Mittelstand verschmolzen seien und sich ungeachtet ihrer Wurzeln im Bürgertum im Stil nicht vom allgemeinen Stil der Industriegesellschaft unterschieden. (Vgl. auch die Nivellierte Mittelstandsgesellschaft) Dies schließt nicht aus, dass bürgerliche Lebensstile immer noch vorkommen, meist als Familienstile.
Siehe auch |
- Bürgeradel
- Bürgerliche Partei
- Bürgerliche Revolution
- Bürgerrecht
- Bürgerrechtsbewegung
- Citoyen
- Differenzierung (Soziologie)
- Soziale Schicht
- Bürgerschaftliches Engagement
Literatur |
Gunilla Budde, Eckart Conze, Cornelia Rauh (Hrsg.): Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2010, ISBN 3-647-36850-4.
Heinz Bude, Joachim Fischer, Bernd Kauffmann (Hrsg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir? Fink, Paderborn 2010, ISBN 3-7705-4627-X.
Dieter Claessens, Karin Claessens: Kapitalismus als Kultur. Entstehung und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Diederichs, Düsseldorf/Köln 1973, ISBN 3-424-00479-0.
Elisabeth Fehrenbach: Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. Bd. 31). München 1994, ISBN 978-3-486-56027-5 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3Dhttp%3A%2F%2Fwww.historischeskolleg.de%2Ffileadmin%2Fpdf%2Fkolloquien_pdf%2FKolloquien31.pdf~GB%3D~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D).
Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland. Goldmann, München 1991, ISBN 3-442-12829-3.- Lothar Gall (Hrsg.): Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Oldenbourg, München 1990, ISBN 3-486-55846-3.
Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke, Till van Rahden (Hrsg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933. Mohr Siebeck, Tübingen 2001, ISBN 3-16-147498-8.- Manfred Hettling: Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte. 4. September 2015.
- Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, ISBN 3-525-01385-X.
- Manfred Hettling, Bernd Ulrich (Hrsg.): Bürgertum nach 1945. Hamburger Edition, Hamburg 2005, ISBN 3-936096-50-3.
Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-01339-6.- Jürgen Kocka (Hrsg.): Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. Bd. 7), Oldenbourg. München 1986, ISBN 978-3-486-52871-8 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3Dhttp%3A%2F%2Fwww.historischeskolleg.de%2Ffileadmin%2Fpdf%2Fkolloquien_pdf%2FKolloquien07.pdf~GB%3D~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D).
Oskar Köhler: Bürger, Bürgertum. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon. Bd. 1: Abendland – Deutsche Partei. Herder, Freiburg im Breisgau 1985, ISBN 3-451-19301-9, Sp. 1040 ff. (mit zahlreichen weiterführenden Literaturangaben)
Peter Lundgreen (Hrsg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 1986–1997. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, ISBN 3-525-35683-8.
Werner Plumpe, Jörg Lesczenski (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. von Zabern, Mainz 2009, ISBN 3-8053-3962-3.- Michael Schäfer: Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2009, ISBN 3-8252-3115-1.
Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Band 75). 2. Auflage. De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2014, ISBN 3-11-039716-1.- Andreas Schulz: Weltbürger und Geldaristokraten. Hanseatisches Bürgertum im 19. Jahrhundert. (= Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge. Band 40). Stiftung Historisches Kolleg, München 1995 (Digitalisat).
Klaus Tenfelde, Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums. Vierzehn Beiträge. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, ISBN 3-525-35673-0 (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3Dhttp%3A%2F%2Fdigi20.digitale-sammlungen.de%2Fde%2Ffs1%2Fobject%2Fdisplay%2Fbsb00046681_00001.html~GB%3D~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D).
Weblinks |
Wiktionary: Bürgertum – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: bürgerlich – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Literatur von und über Bürgertum im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Katharina Simon-Muscheid, Albert Tanner: Bürgertum. In: Historisches Lexikon der Schweiz.- Albert Tanner: Bürgerliche Gesellschaft. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
Bürger – Bürgertum – Bürgerlichkeit In: Aus Politik und Zeitgeschichte
Joachim Fischer: Bürgerliche Gesellschaft. Zur historischen Soziologie der Gegenwartsgesellschaft
- Reinhard Markner: »Civil Society« oder »Bürgerliche Gesellschaft«