Vitalismus




Vitalismus (lat.: vita „Leben“) ist eine Sammelbezeichnung für Lehren, die als Grundlage alles Lebendigen eine Lebenskraft (vis vitalis)[1] oder eine Seele, als eigenständiges Prinzip, annehmen. Damit wird ein Wesensunterschied zwischen Organischem und Anorganischem behauptet.


Die Bezeichnung Vitalismus ist ein Kampfbegriff aus dem 19. Jahrhundert. Ein Gegenentwurf ist der Mechanizismus. Vitalismus und Mechanizismus werden als überholte Theorien bezeichnet; statt ihrer bevorzugt die Wissenschaft im 20. und 21. Jahrhundert, beide Entwürfe im Systemismus zusammenzuführen.


Die Vertreter des Vitalismus werden als Vitalisten bezeichnet. Als ein Vorläufer des Vitalismus kann Aristoteles gelten, der das Lebendige als durch ein Lebensprinzip ermöglicht betrachtete, welches er Entelechie nannte. Allerdings kann seine Metaphysik auch funktionalistisch-materialistisch gedeutet werden. Weitere Begriffe, die die belebte im Unterschied zur unbelebten Natur kennzeichnen waren calor innatus, succus nervosus, spiritus animalis, Archäus, Lebenstonus, anima, Principe vital oder Lebenkraft.[2]


Bedeutende Vertreter des Vitalismus im engeren Sinne waren Jan Baptist van Helmont (1577–1644), Georg Ernst Stahl (1659–1734), Albrecht von Haller (1708–1777), Théophile de Bordeu (1722–1776) und Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840). Die Schule von Montpellier vertritt im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eine eigene Art des Vitalismus, die sich von Stahls Animismus abhebt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert vertraten auch die Denker der Lebensphilosophie Positionen des Vitalismus. Der letzte bedeutende Biologe, der eine vitalistische Position vertrat (Neovitalismus), war Hans Driesch (1867–1941). Er griff dabei den aristotelischen Begriff der Entelechie auf.


Seither, besonders seit der Synthese von Harnstoff im Jahr 1828 durch Friedrich Wöhler und erst recht seit der spontanen Entstehung von Aminosäuren in den Versuchen von Stanley Miller und Harold C. Urey 1959, gilt der vitalistische Ansatz in der Biologie als überholt. Es wird dort geschlossen, dass Lebenskraft bzw. Lebensenergien zur Herstellung organischer Substanzen nicht notwendig sind. Von Vitalisten wird hierzu allerdings darauf hingewiesen, dass die manipulierte oder spontane Entstehung von einzelnen Lebensbausteinen keineswegs mit der Entstehung belebter Substanz gleichzusetzen sei.


Merkmale oder Elemente einer vitalistischen Deutung finden sich auch in den Arbeiten von Franz Anton Mesmer („animalischer Magnetismus“), Karl von Reichenbach („Od“), Alfred Russel Wallace („a new power vitality“), Henri Bergson („élan vital“), Alfred North Whitehead („creativity“), Pierre Teilhard de Chardin („Radiale Energie“), Wilhelm Reich („Orgon“), Adolf Portmann („Selbstdarstellung“), Arthur Koestler („The Ghost in the Machine“), Ken Wilber („holon“), Ervin László („Akashic field“) und Rupert Sheldrake („Morphogenetisches Feld“), sowie in der fernöstlichen Vorstellung einer Lebenskraft Prana oder Qi, die auch von der modernen westlichen Esoterik aufgegriffen wurde.


In neuerer Zeit griffen einige Zellbiologen diese Bezeichnung in einem übertragenen Sinn wieder auf als „molekularen Vitalismus“.[3]



Literatur |




  • Otto Bütschli: Mechanismus und Vitalismus. W. Engelmann, Leipzig 1901 (Digitalisat). 


  • Eve-Marie Engels: Die Teleologie des Lebendigen: Kritische Überlegungen zur Neuformulierung des Teleologieproblems in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie. Duncker und Humblot, Berlin 1982, ISBN 3-428-05150-5. 


  • Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-29124-6. 



Weblinks |



 Wiktionary: Vitalismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen


Einzelnachweise |




  1. Brigitte Lohff: Lebenskraft. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 832.


  2. Brigitte Lohff: Vitalismus. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1449–1451; hier: S. 1449 f.


  3. M. Kirschner, J. Gerhart, T. Mitchison: Molecular vitalism. In: Cell. Nr. 100, 2000, S. 79–88. 




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