Archytas von Tarent








Archytas von Tarent (altgriechisch Ἀρχύτας Archýtas; * wohl zwischen 435 und 410 v. Chr.; † wohl zwischen 355 und 350 v. Chr.)[1] war ein antiker griechischer Philosoph (Pythagoreer), Mathematiker, Musiktheoretiker, Physiker, Ingenieur, Staatsmann und Feldherr. Er wirkte in seiner Heimatstadt, der griechischen Kolonie Tarent in Apulien.




Inhaltsverzeichnis






  • 1 Leben


  • 2 Bildliche Darstellung


  • 3 Werke


  • 4 Philosophie


  • 5 Kosmologie


  • 6 Mathematik


    • 6.1 Irrationalität


    • 6.2 Kurve des Archytas




  • 7 Musik


  • 8 Physik


    • 8.1 Optik und Akustik


    • 8.2 Mechanik


      • 8.2.1 Taube des Archytas


      • 8.2.2 Ratsche






  • 9 Rezeption


  • 10 Textausgabe


  • 11 Literatur


  • 12 Weblinks


  • 13 Anmerkungen





Leben |


Archytas’ Vater hieß wahrscheinlich Hestiaios.[2] Ansonsten ist über seine Herkunft nichts bekannt. Cicero berichtet, der Lehrer des Archytas sei Philolaos von Kroton gewesen. Das ist plausibel, aber nicht sicher. Philolaos gehörte ebenso wie Archytas der von Pythagoras von Samos gegründeten Schule der Pythagoreer an. Von den Schülern des Archytas ist nur der Mathematiker Eudoxos von Knidos namentlich bekannt.[3]


Tarent hatte damals eine demokratische Verfassung, stand aber im Peloponnesischen Krieg auf der Seite seiner Mutterstadt Sparta, die mit Syrakus verbündet war, gegen das ebenfalls demokratische Athen. Nach dem Ende des Krieges (404) nahm Tarent weiterhin eine freundliche Haltung gegen Syrakus ein und hielt sich aus den militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Tyrannen Dionysios I. von Syrakus und einer 393 gebildeten Liga süditalienischer Griechenstädte heraus. Nachdem der Tyrann 379/378 die führende Stadt der Liga, Kroton, erobert hatte, übernahm Tarent die Führung der Liga, wohl im Einvernehmen mit Dionysios, und entwickelte sich zur Führungsmacht im festländischen Teil der Magna Graecia. Nun begann eine Blütezeit der Stadt, während die Macht von Syrakus nach Dionysios’ Tod (367) abnahm.


Der kaiserzeitliche Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios, der sich wahrscheinlich auf Angaben des gut informierten Philosophen Aristoxenos stützte, hob rühmend hervor, dass Archytas als einziger siebenmal von seinen Mitbürgern zum Feldherrn (Strategen) gewählt wurde, obwohl das Gesetz keine Wiederwahl nach dem Ende der einjährigen Amtszeit zuließ.[4] Gemeint war wohl, dass er siebenmal hintereinander einem Kollegium von gewählten Feldherrn angehörte, obwohl unmittelbare Wiederwahl verboten war, da man einer gefährlichen Machtkonzentration vorbeugen wollte. Offenbar wurde die gesetzliche Vorschrift durch einen Volksbeschluss eigens für Archytas außer Kraft gesetzt. Diese Sonderregelung illustriert das außerordentliche Vertrauen, dessen er sich erfreute. Als führender Staatsmann und Feldherr Tarents war er zugleich Oberkommandierender der Streitkräfte der Liga. Seine Feldzüge, die alle erfolgreich waren, richteten sich gegen die traditionellen Gegner der Griechen, die einheimischen Stämme der Region (Italiker).[5]


Zur Bekanntheit des Archytas in späterer Zeit trug vor allem seine Beziehung zu Platon bei, den er bei dessen erster Italienreise (388/387 v. Chr.) kennenlernte, als Platon Dionysios I. in Syrakus aufsuchte. Archytas wurde Platons Gastfreund (xénos). Platon war wohl in erster Linie an Archytas’ Mathematikkenntnissen interessiert. Dieses Gastfreundschaftsverhältnis beinhaltete gegenseitige Verpflichtungen zu beiderseitigem Vorteil, war aber nicht notwendigerweise mit einer engen persönlichen Freundschaftsbeziehung verbunden. Als Platon im Jahr 361 beim Tyrannen Dionysios II. von Syrakus, dem Sohn Dionysios’ I., in Ungnade gefallen war und mit dem Tod bedroht wurde, hat ihm Archytas einem Bericht des Diogenes Laertios zufolge das Leben gerettet. Dass Archytas, als Platon ihn um Hilfe bat, intervenierte und dem bedrängten Philosophen die Abreise ermöglichte, geht aus Platons siebentem Brief hervor. Unglaubwürdig ist eine späte Legende, der zufolge Platon auf Befehl des Tyrannen (Dionysios I.) versklavt und von Archytas gekauft und freigelassen wurde.[6]


Früher glaubte man, aus der Ode I 28 des römischen Dichters Horaz schließen zu können, Archytas sei bei einem Schiffbruch in der Adria ums Leben gekommen. Diese Deutung beruht auf einem Missverständnis. Archytas wird zwar in dem Gedicht, das von einem ertrunkenen Seemann handelt, erwähnt, ist aber nicht selbst der Tote.[7]



Bildliche Darstellung |




Früher irrtümlich als Archytas identifizierte Büste im Archäologischen Nationalmuseum Neapel


Bildnisse eines Mannes mit turbanartiger Kopfbedeckung – eine bronzene Büste im Archäologischen Nationalmuseum von Neapel und eine römische Herme im Museo Capitolino in Rom – sind wegen des eigentümlichen Haarstils als Darstellungen des Archytas identifiziert worden, da diese Haartracht auch auf einer entsprechend beschrifteten Münze von Tarent zu sehen ist. Die Münze hat sich jedoch als moderne Fälschung erwiesen, womit die Grundlage für die Identifizierung entfällt.[8]



Werke |


Von den echten Werken des Archytas sind nur vier Fragmente erhalten. In den älteren Quellen findet sich keine Werkliste. In späterer Zeit waren viele unechte Werke unter seinem Namen im Umlauf.[9] Die ursprünglichen Titel der echten Werke sind nicht bekannt; sicher ist nur, dass sie seine Hauptthemen Musik (Harmonik) und Mathematik behandelten. Vielleicht verfasste er auch Schriften über Kosmologie und Biologie.[10]



Philosophie |


Obwohl Archytas ein jüngerer Zeitgenosse von Sokrates war, wird er zu den Vorsokratikern gezählt, weil er zu einer älteren Tradition gehörte, die noch nicht unter dem Einfluss der sokratischen Philosophie stand.


Archytas betrachtete die Arithmetik, die er „Logistik“ (logistikē) nannte, als Grundlage der Wissenschaften und betonte auch ihren Vorrang vor der Geometrie. In der Hochschätzung der Mathematik stimmte er mit Platon überein. Während jedoch Platon in der Mathematik nur eine Vorbereitung zu einer Philosophie sah, die sich mit rein geistigen Objekten befasst, teilte Archytas Platons Geringschätzung der Empirik nicht und machte auch die scharfe platonische Trennung zwischen den Bereichen des geistig Erkennbaren und des sinnlich Wahrnehmbaren nicht mit. Für ihn als Politiker war die Arithmetik auch deswegen wichtig, weil sie aus seiner Sicht die Möglichkeit bot, einleuchtende Formeln für eine einvernehmliche, ausgewogene Besitzverteilung unter den Bürgern zu finden. Da die Anwendung solcher Formeln für jeden überprüfbar war, konnte damit nach Archytas’ Überzeugung der soziale Frieden hergestellt und bewahrt werden. Dies war in den oft von blutigen Machtkämpfen erschütterten griechischen Städten von größter Bedeutung.[11]



Kosmologie |


Die Überlieferung, wonach Archytas sich auf dem Gebiet der Astronomie betätigte, geht auf die römischen Dichter Horaz und Properz zurück, die wohl keine zuverlässigen Informationen darüber besaßen. Authentisch und berühmt ist jedoch seine Argumentation für die Unendlichkeit des Universums. Es handelt sich um ein Gedankenexperiment („Stab des Archytas“), das besagt, dass jemand, der an einem angenommenen Ende des Universums angekommen wäre und dort seine Hand oder einen Stab ausstrecken würde, entweder auf einen Körper oder auf leeren Raum stoßen müsste, also auf jeden Fall auf eine Fortsetzung des Universums, das somit kein Ende haben könne. Dieser Gedanke wurde von den Stoikern und Epikureern und noch von John Locke und Isaac Newton aufgegriffen und abgewandelt.[12]



Mathematik |



Irrationalität |


Archytas konnte beweisen, dass es irrationale Größenverhältnisse gibt, die sich nicht als rationale Zahlenverhältnisse (Bruchzahlen) darstellen lassen. Im Rahmen seiner Musiktheorie bewies er die Irrationalität der Quadratwurzeln (n+1):n{displaystyle {sqrt {(n+1):n}}}. Er zeigte dazu unter Verwendung des größten gemeinsamen Teilers und des Euklidischen Algorithmus den Satz, dass es keine (rationale) Zahl geben kann, die ein geometrisches Mittel zwischen zwei im Verhältnis (n+1):n{displaystyle (n+1):n} stehenden Zahlen ist. Dies belegt, dass er bereits wesentliche Teile der Arithmetik, die in Euklids Elementen dargelegt ist, kannte. Der Satz und Beweis des Archytas wurde in der musiktheoretischen Schrift Teilung des Kanons von Euklid überliefert und verallgemeinert.



Kurve des Archytas |




Kurve des Archytas


Hippokrates von Chios war es gelungen, das Problem der Verdopplung des Würfels auf ein Verhältnisproblem zurückzuführen: Es genüge, für die Strecke a{displaystyle a} (die Kante des zu verdoppelnden Würfels) die Strecken u{displaystyle u} und v{displaystyle v} so zu finden (das bedeutet: geometrisch zu konstruieren), dass sie im Verhältnis a:u=u:v=v:2a{displaystyle a:u=u:v=v:2a} stehen. Dann ist nämlich (u:v{displaystyle u:v} und v:2a{displaystyle v:2a} für a:u{displaystyle a:u} einsetzen):


(au)3=au×uv×v2a=a2a=12.{displaystyle left({frac {a}{u}}right)^{3}={frac {a}{u}}times {frac {u}{v}}times {frac {v}{2a}}={frac {a}{2a}}={frac {1}{2}}.}

Es gilt also


a3=u3{displaystyle 2times a^{3}=u^{3}}

und der Würfel mit der Kante u{displaystyle u} ist wie gewünscht eine Verdopplung des Würfels mit der Kante a{displaystyle a}.


u{displaystyle u} und v{displaystyle v} für vorgegebene Strecken a{displaystyle a} und b{displaystyle b} so zu konstruieren, dass a:u=u:v=v:b{displaystyle a:u=u:v=v:b} gilt, gelang Hippokrates jedoch nicht, auch nicht für den hier nur benötigten Spezialfall b=2a{displaystyle b=2a}. Wohl aber gelang dies laut Antiochos von Askalon Archytas mit Hilfe der daher nach ihm benannten Kurve. Diese ist die erste krumme (das heißt in keiner Ebene enthaltene) Kurve, die in der Geschichte der Mathematik benutzt wurde.


Archytas benutzte zur Lösung drei Körper (genauer, deren Oberflächen): einen Torus, einen Zylinder und einen Konus. In modernerer Darstellung mittels geeignet gewählter kartesischer Koordinaten werden diese Oberflächen gegeben jeweils durch eine der Gleichungen


x2+y2+z2=ax2+y2x2+y2=axx2+y2+z2=a2b2x2{displaystyle {begin{matrix}x^{2}+y^{2}+z^{2}=a{sqrt {x^{2}+y^{2}}}\x^{2}+y^{2}=ax\x^{2}+y^{2}+z^{2}={frac {a^{2}}{b^{2}}}x^{2}end{matrix}}}

Torus und Zylinder schneiden sich in einer Kurve, eben der Kurve des Archytas, der Schnittpunkt P{displaystyle P} dieser Kurve mit dem Konus ist ein Punkt, der allen drei Gleichungen genügt. Für ihn gilt also, wenn abkürzend



u=x2+y2+z2{displaystyle u={sqrt {x^{2}+y^{2}+z^{2}}}}  und  v=x2+y2{displaystyle v={sqrt {x^{2}+y^{2}}}}

geschrieben wird:


{u2=avv2=axu2=a2b2x2{displaystyle left{{begin{matrix}u^{2}=av\v^{2}=ax\u^{2}={frac {a^{2}}{b^{2}}}x^{2}end{matrix}}right.}

Die erste Gleichung besagt a:u=u:v{displaystyle a:u=u:v}. Wenn in der dritten für ax{displaystyle ax} das laut zweiter Gleichung gleichwertige v2{displaystyle v^{2}} eingesetzt wird, ergibt sich nach Wurzelziehen und Umstellung u:v=v:b{displaystyle u:v=v:b}. Insgesamt gilt also die gewünschte Beziehung a:u=u:v=v:b{displaystyle a:u=u:v=v:b}, die Strecke von P{displaystyle P} zum Koordinatenursprung hat die Länge u{displaystyle u} (so wurde u{displaystyle u} eingeführt), sie ist also im Fall b=2a{displaystyle b=2a} die Kante des verdoppelten Würfels.


Eine Begründung der Lösung gibt Jonathan Tennenbaum.[13] Die Konstruktion gelingt nicht, wenn nur Zirkel und Lineal verwendet werden dürfen; diese Forderung wurde aber erst nach Archytas in der griechischen Mathematik vorherrschend.



Musik |


Archytas wollte die Harmonik (Intervalltheorie) auf eine neue mathematische Grundlage stellen. Er versuchte, die Proportionen für die Konsonanzen Oktave (2:1), Quinte (3:2) und Quarte (4:3) auf axiomatischem Weg zu beweisen, was für ihn nötig war, da in seiner Akustik eine experimentelle Bestimmung der Geschwindigkeitsverhältnisse als Ursache für die Intervalle unmöglich war. Seine Axiome und Beweise überlieferte Euklid in seiner Teilung des Kanons, darin als Hilfssatz den oben zitierten Satz des Archytas über die Irrationalität der Wurzel aus (n+1):n{displaystyle (n+1):n}. Musikalisch besagt dieser Satz, dass man die Oktave (2:1), Quinte (3:2), Quarte (4:3) und andere Intervalle mit der Proportion (n+1):n{displaystyle (n+1):n} nicht exakt halbieren kann, wenn man kommensurable Größen zugrunde legt. Dieser Sachverhalt wurde in der pythagoreischen Musiktheorie bis in die Neuzeit hinein angenommen und tradiert. Die Intervalltheorie des Archytas enthält aber an anderer Stelle einen Fehler und ist zudem rein hypothetisch, was schon Aristoxenos heftig kritisierte. Daher wurde sie zur Herleitung der Intervallproportionen in der späteren Musiktheorie (Ptolemaios) abgelehnt.


Ptolemaios überlieferte auch drei Tetrachorde des Archytas mit Saitenlängen, aus denen sich die Intervall-Proportionen wie folgt berechnen lassen:















enharmonisches Tetrachord: (28:27)(36:35)(5:4)
chromatisches Tetrachord: (28:27)(15:14)(6:5)
diatonisches Tetrachord: (28:27)(8:7)(9:8)

Archytas benutzte also – im Gegensatz zur pythagoreischen Hauptströmung nach Philolaos und Euklid – schon die reine große und kleine Terz 5:4 und 6:5, die in der Mehrstimmigkeit der Neuzeit wichtig wurden.



Physik |



Optik und Akustik |


Apuleius gibt in seiner Apologie ein von Archytas behandeltes physikalisches Argument wieder, das die Natur der Lichtreflexion auf einem Spiegel betrifft. Archytas meinte (wie Platon), dass unsere Augen Strahlen aussenden, die sich aber mit nichts vereinen können.


Archytas stellte eine Theorie zur Akustik auf und formulierte Beobachtungen und Hypothesen über den Schall. Sie enthalten Fehler, stellen aber dennoch eine bedeutende Leistung dar und wurden zur Basis der Schalltheorie von Platon und Aristoteles. Als Ursache der Töne sah er Bewegungen von Körpern sowie der Luft und als Ursache der Tonhöhe eine unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schalls (bei höherer Geschwindigkeit ein höherer Ton). Damit begründete er auch die Hypothese der Sphärenharmonie, wonach auch sich bewegende Himmelskörper Töne erzeugen, die aber wegen ihrer außerordentlichen Stärke unhörbar sind, denn der Schall kann nicht ins Ohr eindringen wie bei einem enghalsigen Gefäß, in das man viel eingießen will. Seine unhaltbare akustische Theorie wurde von Aristoxenos heftig kritisiert und aufgrund dieser Kritik von Euklid verbessert und auf Frequenzen von Schwingungen umgestellt.



Mechanik |


Archytas wurde als Begründer der Mechanik betrachtet. Er soll mehrere Apparate erfunden haben: die fliegende „Taube des Archytas“, eine Ratsche und – schon vor Archimedes – den Flaschenzug.



Taube des Archytas |


Von der Taube berichtet Aulus Gellius, ein römischer Schriftsteller des 2. Jahrhunderts. Er beruft sich auf eine heute verlorene griechische Schrift seines älteren Zeitgenossen Favorinus, die er zitiert, und auf Angaben weiterer, nicht namentlich genannter Autoren. Nach dieser Darstellung konstruierte Archytas eine hölzerne Nachbildung einer Taube, die mittels einer von ihm ersonnenen Mechanik fliegen konnte. Dazu bemerkt Gellius, dies scheine unglaublich, sei aber für wahr zu halten. Die Konstruktion sei durch Gegengewichte (libramenta) balanciert worden. Die Taube sei durch eine verborgene, eingeschlossene Luftströmung in Bewegung gesetzt worden. Allerdings konnte sie sich laut dem Favorinus-Zitat nach der Landung nicht erneut in die Luft erheben.[14]


Als Erfinder des Geräts wird bei Gellius und Favorinus Archytas von Tarent bezeichnet. In der Forschung wird aber die Möglichkeit erwogen, dass eine Verwechslung mit einem gleichnamigen Autor vorliegt, der in späterer Zeit eine Abhandlung über Mechanik verfasste.[15]


In der Fachliteratur sind verschiedene Erklärungshypothesen erörtert worden, deren Ausgangsbasis ein 1904 von Wilhelm Schmidt dargelegtes Modell bildet. Diesem zufolge flog die Taube nicht frei, sondern war Bestandteil eines größeren Apparats, für den Rollen benötigt wurden. Eine Schnur verband sie mit dem in der Luft hängenden Gegengewicht. Der hölzerne Vogel war hohl, mit Pressluft gefüllt und mit einem verborgenen Ventil versehen, durch dessen Öffnung Luft entweichen konnte. Dadurch verringerte sich das Gewicht, und das Gegengewicht, das so schwer war wie die Taube samt der komprimierten Luft, erlangte das Übergewicht und senkte sich, so dass die Taube emporgeschnellt wurde.[16] Carl A. Huffman hat 2005 eine abgewandelte Version des Modells vorgelegt, die ohne die Annahme von Pressluft in der Taube auskommt; nach seiner Deutung wurde der benötigte Luftstrom außerhalb des Vogels erzeugt.[17]




Beispiel einer Ratsche, wie sie Archytas zugeschrieben wird.



Ratsche |


Der zweite Apparat, die Ratsche,[18] ist noch heute im Gebrauch. Oft sieht man sie auf Jahrmärkten. In der Originalform bestand sie aus einem kleinen Zahnrad, das an einem Stäbchen befestigt war. An diesem Rad war eine Feder befestigt, die mit einem Stück Holz verbunden war.



Rezeption |


Aristoteles setzte sich intensiv mit der Philosophie des Archytas auseinander. Er behandelte sie in einer besonderen Schrift aus drei Büchern. Außerdem verfasste er eine Gegenüberstellung von Platons Dialog Timaios und der Schriften des Archytas. Beide Werke des Aristoteles sind heute verloren. Sein Schüler Aristoxenos, der aus Archytas’ Heimatstadt Tarent stammte, schrieb eine Biographie seines berühmten Landsmanns, die ebenfalls verloren ist. Auf ihr fußt wohl die spätere biographische und doxographische Tradition, darunter die kurze Archytas-Biographie des Diogenes Laertios. Cicero lobte die Selbstbeherrschung des Archytas.


Unter dem Namen des Archytas sind eine Reihe von Abhandlungen und Fragmenten sowie zwei Briefe in dorischem Dialekt überliefert, die sicher nicht von ihm stammen, sondern von verschiedenen unbekannten Autoren. Sie gehören zum pseudepigraphen (unter falschen Verfassernamen verbreiteten) philosophischen Schrifttum, dessen anonyme Autoren ihre Schriften bekannten Pythagoreern der Vergangenheit zuschrieben, um damit ihren literarischen Fiktionen Beachtung zu verschaffen. Unter den Pythagoreern ist Archytas derjenige, unter dessen Namen in der Antike die meisten derartigen Werke kursierten. Die Datierung der pseudo-archyteischen Schriften ist umstritten; nach einer älteren Forschungsmeinung (Holger Thesleff) gehören sie großenteils in die frühhellenistische Zeit, nach den heute vorherrschenden Datierungsansätzen sind manche im 1. Jahrhundert v. Chr. oder im 1. Jahrhundert n. Chr. entstanden. Behandelt werden Fragen der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik und Staatstheorie.[19]


Mit dem religiösen Aspekt der pythagoreischen Tradition wurde Archytas erst in der Spätantike in Verbindung gebracht. Im Mittelalter wurde er dann als einer der großen Weisen der Antike und auch als Magier dargestellt.[20]


Als vorbildlicher Weiser, der sich insbesondere durch seine Mäßigung auszeichnet, und als populärer Staatsmann spielt er in Wielands Roman Geschichte des Agathon (1766–1767) eine tragende Rolle. Hans-Harder Biermann-Ratjen nimmt die Gestalt des Archytas in seinen 1948 erschienenen Roman Das Glück auf der Kugel auf.


Der Mondkrater Archytas ist nach dem antiken Wissenschaftler benannt.



Textausgabe |


  • Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum. Pythagorean, Philosopher and Mathematician King. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-83746-4 (grundlegende Studie; enthält Ausgabe der Fragmente mit englischer Übersetzung und ausführlichem Kommentar und Zusammenstellung aller übrigen Quellenzeugnisse)


Literatur |



  • Bruno Centrone: Archytas de Tarente. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 1, CNRS, Paris 1989, ISBN 2-222-04042-6, S. 339–342

  • Charles H. Kahn: Pythagoras and the Pythagoreans. A Brief History. Hackett, Indianapolis 2001, ISBN 0-87220-576-2

  • Leonid Zhmud: Archytas aus Tarent (DK 47). In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): Frühgriechische Philosophie (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 1), Halbband 1, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8, S. 425–428



Weblinks |



 Commons: Archytas von Tarent – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien



  • Literatur von und über Archytas von Tarent im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek


  • Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.Vorlage:SEP/Wartung/Parameter 1 und weder Parameter 2 noch Parameter 3



Anmerkungen |




  1. Zur Datierung Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 5f.


  2. Nach anderen, weniger glaubwürdigen Angaben war der Name des Vaters Mnesagoras, Mnasagetes oder Mnesarchos. Siehe dazu Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 6.


  3. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 6–8.


  4. Diogenes Laertios 8,79.


  5. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 12–14.


  6. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 32–42.


  7. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 19–21.


  8. Bruno Centrone, Marie-Christine Hellmann: Archytas de Tarente. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 1, Paris 1989, S. 339–342, hier: 342; Gisela M. A. Richter: The Portraits of the Greeks, Bd. 2, London 1965, S. 179 (vgl. Bd. 1, London 1965, S. 79).


  9. Ein Verzeichnis bietet Holger Thesleff: An Introduction to the Pythagorean Writings of the Hellenistic Period, Åbo 1961, S. 8–11.


  10. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 30–32.


  11. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 68–76.


  12. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 22–24, 541–550; Jonas Pfister: Werkzeuge des Philosophierens, Stuttgart 2013, S. 103.


  13. Jonathan Tennenbaum: Die Verdoppelung des Würfels: Warum heutige Mathematiker Archytas nicht verstehen können. In: Fusion - Forschung und Technik für das 21. Jahrhundert, Februar 2003, abgerufen am 16. Juli 2018.


  14. Aulus Gellius, Noctes Atticae 10,12,9 f.


  15. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 571.


  16. Wilhelm Schmidt: Aus der antiken Mechanik. In: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum 13, 1904, S. 329–351, hier: 349–351.


  17. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 570–579.


  18. Suda, Stichwort Ἀρχύτας, Adler-Nummer: Alpha 4121, Suda-Online.


  19. Übersichten bieten Bruno Centrone: Pseudo-Archytas. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 1, Paris 1989, S. 342–345 und Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 595–609.


  20. Carl A. Huffman: Archytas of Tarentum, Cambridge 2005, S. 4, 25.
























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